Der Sakai-Zwischenfall vom März 1868

Dieses „Bakumatsu-Portrait“ befasst sich nicht mit einer Persönlichkeit, sondern mit einem fatalen Ereignis in der Hafenstadt Sakai im März 1868.

Mitten in den Anfangswirren des Boshin-Krieges (Januar 1868 – Juni 1869), der zwischen den verbliebenen Tokugawa-Getreuen und den neuen kaiserlichen Truppen bestritten wurde, kam es in der Hafenstadt Sakai zu einem folgenschweren internationalen Vorfall zwischen französischen Matrosen bzw. Marine-Soldaten und Bushi des Tosa-han.

In diesen Tagen und Monaten herrschte Chaos in Japan:
Am 30. Januar 1868 (Keiō 4 / 1. Monat / 6. Tag) wurden die Tokugawa-Truppen in der Schlacht von Toba-Fushimi (südl. Bezirk von Kyōto) vernichtend geschlagen und zogen sich in die Burg von Osaka zurück, wo Shōgun Tokugawa Yoshinobu sein Quartier hatte. Noch in derselben Nacht floh Yoshinobu zusammen mit den Daimyō von Aizu und Kuwana auf der Kaiyō Maru, einem Kriegsschiff der Bakufu-Marine, nach Edo. Ōsaka, das Machtzentrum des Shogunats in West-Japan, fiel somit an die kaiserlichen Truppen.

Diese überstürzte Flucht führte dazu, dass sich Beamte und Funktionäre des Bakufu in alle Winde zerstreuten, weil sie befürchten mussten, als Chōteki, „Feinde des Hofes“ gebrandmarkt zu werden.

Frühe Fotographie der Aussenmauern der Burg Osaka (ca. 1865)

Auch wenn der Konflikt noch weitere eineinhalb Jahre andauern sollte, war West-Japan nun in der Hand des Kaisers und den Truppen von Satsuma, Chōshū, Tosa und weiterer loyaler Daimyate.

Allerdings führte die abrupte Niederlage des Bakufu in vielen Städten zu einem vorübergehenden Machtvakuum, insbesondere was die Sicherheit betraf. Denn Polizeieinheiten, welche ihren Dienst als Vasallen des Shōgun versahen, verschwanden aus dem Stadtbild.
Um zumindest ein rudimentäres Level an Ordnung herzustellen, wurden Truppen aus Satsuma abberufen, um für die Sicherheit in Ōsaka zu sorgen. Gleiches mussten Truppen aus Chōshū in Hyōgo (heutiges Kōbe) und Truppen aus Tosa in Sakai verrichten. Alle drei Städte besassen wichtige Häfen.

 

Rot umrandet: Fushimi-ku im Süden von Kyōto

In der grossen Bucht von Ôsaka, wo sich alle drei Häfen befinden, lagen ca. 16 französische, britische und amerikanische Schiffe vor Anker und beobachteten selbstverständlich die sich entwickelnde Lage aufmerksam.

Eines dieser Schiffe war die Korvette Dupleix der französischen Kriegsmarine.

Am 8. März 1868 (Keiō 4 / 2. Monat /15. Tag) wurde ein kleiner Stosstrupp von der Dupleix aus in den Hafen von Sakai geschickt. Es mag die Hoffnung bestanden haben, genügend Chaos vorzufinden, um eine Besetzung der Stadt zu rechtfertigen.
Allerdings hatten die Tosa-Truppen zu diesem Zeitpunkt die Ordnung bereits wieder hergestellt. Dies hielt allerdings die französischen Marine-Soldaten nicht davon ab, trotzdem durch die Stadt zu marschieren.

Gemäss einem der diversen (ungleichen) Verträge zwischen ausländischen Nationen und der damaligen Regierung der Tokugawa, galt der Hafen von Sakai als „offen für ausländische Schiffe“. Wie bei solchen Verträgen üblich, bestand wohl ein grosser juristischer Spielraum was die Auslegung betraf.

Schlussendlich mag das Ganze nur auf ungenügender Kommunikation beruht haben… aber das Unheil nahm seinen Lauf.

Der Stosstrupp wurde durch eine Patrouille von Tosa-Bushi aufgehalten. Durch einen Übersetzer wurden Ausweispapiere verlangt, welche die Franzosen natürlich nicht vorlegen konnten und somit gezwungen waren, in den Hafen zurückzukehren.
Gleichentags wurden aber weitere französische Einheiten in Booten an Land gebracht. Die Marine-Soldaten breiteten sich in der Stadt aus, betraten ungefragt Häuser und verhielten sich wohl so, wie man sich marodierende Soldaten vorstellt.

Tosa-Einheiten versuchten, der Lage Herr zu werden. Eines führte zum anderen und schlussendlich behändigte ein junger französischer Matrose das Regimentsbanner der Tosa-Einheiten und rannte davon. Daraufhin befahlen zwei junge Tosa-Offiziere das Feuer auf die Franzosen zu eröffnen. Dies führte zu einem längeren Schusswechsel und auch zum Einsatz von Blankwaffen.

Beide Seiten bestanden darauf, im Recht gewesen zu sein. Am Ende des Tages waren allerdings neun französische Marine-Soldaten tot, zwei weitere verstarben am folgenden Tag (die Männer waren im Alter zwischen 20 und 28 Jahren). Die japanische Seite hatte keine Verluste zu beklagen.

Der Zwischenfall entwickelte sich zu einer veritablen internationalen Krise für die neue japanische Führung, welche nach wie vor nicht fest im Sattel sass.
Bis in Zeitungen in den USA schaffte es der Vorfall. Mit einer Mischung aus Empörung und Horror vermeldete z.B. die New York Times: „Some of the dead were horribly mutilated!“. Wohl ein Hinweis auf den Einsatz von Schwertern und Naginata.

„Incident de Sakai“ wie es in der Zeitschrift „Le Monde Illustré“ 1868 dargestellt wurde

Die Reaktion Frankreichs auf das Massaker war entsprechend schwerwiegend. Am 12. März 1868 stellte Léon Roches als französischer Generalkonsul fünf Forderungen an die neue kaiserliche Regierung:

  • Hinrichtung der Offiziere und Männer, welche für den Tod der elf Franzosen verantwortlich waren
  • Schadenersatz in Höhe von $ 150‘000 (damit ist der mexikanische Silber-Dollar gemeint, welcher damals im gesamten asiatischen Raum für den Aussenhandel genutzt wurde)
  • Persönliche Entschuldigung des japanischen Aussenministers an Bord der französischen Fregatte Vénus. Den Posten eines „Aussenministers“ gab es zu diesem frühen Zeitpunkt in der Meiji-Regierung noch nicht. Ein kaiserlicher Prinz namens Yamashina Akira war als Diplomat für die Aussenbeziehungen Japans zuständig.
  • Persönliche Entschuldigung des Daimyō von Tosa, Yamanouchi Toyoshige, ebenfalls an Bord der Vénus.
  • Ausschluss aller Tosa-Truppen vom Dienst in den „offenen Häfen“ Japans.
Prinz Yamashina Akira (1816 – 1898)
Yamanouchi Toyoshige (1827 – 1872)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Von Historikern gibt es unterschiedliche Ansichten dazu, ob die französischen Forderungen nun vernünftig und dem Vorfall angemessen waren, oder ob Léon Roches überreagierte und der neuen Regierung vorallem eine Lektion erteilen wollte.

Hierzu muss man wissen, dass im innerjapanischen Konflikt zwischen dem Tokugawa-Bakufu und den kaiserlichen Truppen Frankreich klar Stellung bezog für die Bakufu-Regierung, und diese sowohl logistisch wie auch militärisch unterstützte. Wie weit nun diese politische Komponente bei den Forderungen eine Rolle spielte, kann man nur schwer sagen.

Aber abgesehen davon, ob die französischen Forderungen nun angemessen waren oder nicht; die Meiji-Regierung tat alles, um eine weitere militärische Eskalation mit den ausländischen Mächten zu verhindern.
Roches selbst attestierte in einem Report vom 11. März 1868 an Edouard Drouyn de Lhuys, den französischen Aussenminister : „Es wäre ein Leichtes für unsere Truppen, Sakai niederzubrennen und Blut in Strömen fliessen zu lassen um das französische Blut zu sühnen.“

Léon Roches (1809 – 1901)

Die japanische Seite hatte vier Tage Zeit, auf die Forderungen zu antworten. Alle Bedingungen wurden akzeptiert.

Die härteste Forderung – die Hinrichtung der Verantwortlichen – stellte die japanische Seite vor einige schwierige Entscheidungen: Die Franzosen waren natürlich nicht in der Lage, diejenigen zu identifizieren, welche am Massaker beteiligt waren. Dies oblag den Japanern, insbesondere dem Tosa-Han.

Japanische Funktionäre berichteten den Franzosen, dass „ca. zwanzig Tosa-Samurai und ebensoviele bewaffnete Stadtbewohner an den Ausschreitungen beteiligt waren“. Jedoch wurde entschieden, nur die Samurai zu bestrafen. Es gibt allerdings widersprüchliche Versionen bezüglich Anzahl und Zusammensetzung der Angreifer.

Am 15. März nahmen die Vorbereitungen für die Exekutionen eine unerwartete Wendung. Ein Repräsentant des kaiserlichen Hofes, der im Namen der verurteilten Samurai sprach, beantragte, dass die Männer Seppuku begehen durften um ihrer Ehre Genüge zu tun.

Léon Roches, der wohl die spezielle Bedeutung des Gesuchs nicht vollständig verstand, willigte ein.
Am folgenden Tag, dem 16. März 1868 (Keiō 4 / 2. Monat /23. Tag), begingen elf der zwanzig Verurteilen vor Zeugen Seppuku. Einer der Zeugen war Georges Henri Bergasse Dupetit Thouars, der Kapitän der Korvette Dupleix und ein späterer Konteradmiral der französischen Marine. Dies war zudem der erste dokumentierte Fall, wo Ausländer einem offiziellen Seppuku beiwohnten.

Warum aber waren es lediglich elf Männer die den Tod fanden? Damit hat es eine spezielle Bewandnis…

Ort des Geschehens war ein Tempel in Sakai namens Myōkoku-ji. Anders als gewöhnliche Verbrecher wurden die zwanzig Verurteilten weder in Fesseln noch anderen unehrenhaften Umständen vorgeführt. Im Gegenteil: Jeder einzelne wurde, gekleidet in weisse Seidengewänder, in einer Sänfte transportiert. Auch wenn es sich grundsätzlich um Freitod, also Seppuku, handelte, war es dennoch aufgrund einer Verurteilung angeordnet. In diesem Fall spricht man von Tsumebara, aber all diese protokolarischen Details waren den anwesenden Europäern mit Sicherheit nicht bewusst.

Um zwölf Uhr mittags hätte der erste Seppuku des Offiziers Minoura Inokichi vollzogen werden sollen. Es war alles exakt geplant, mit etlichen japanischen und ausländischen Offiziellen als Zeugen als sich rasch ein heftiges Gewitter anbahnte und sich somit die gesamte Zeremonie um mehrere Stunden verzögerte.
Nach vier Uhr nachmittags vollbrachte, gemäss ihrer Rangfolge, einer nach dem anderen seinen Seppuku. Jedem stand ein Kaishakunin als Sekundant zur Seite.

Nachdem der elfte Mann seinen Seppuku vollzogen hatte, befahl der anwesende französische Kapitän Dupetit Thouars, dass die Vollstreckung der weiteren Urteile unterbleiben solle. Es wurde kolportiert, dies geschah aus einer „humanitären Inspiration“ heraus. Allerdings vertraute der Kapitän später einem hohen britischen Diplomaten an, er habe die weiteren Exekutionen gestoppt, weil er den schrecklichen Anblick nicht länger ertragen konnte.

Georges Henri Bergasse Dupetit Thouars (1832 – 1890)

Ein anderer britischer Diplomat, der bekannte Sir Ernest Satow, hatte jedoch noch eine zweite, ganz andere Erklärung, bereit: Da sich die Hinrichtungen lange hinzogen und es bereits dunkel wurde, fürchtete der Kapitän um sein und das Leben seiner Männer. Er benötigte lediglich einen Vorwand um den Tempel verlassen zu können. Und da mit dem elften Mann dieselbe Anzahl exekutiert worden war, wie Franzosen beim Zwischenfall ums Leben kamen, diente das wohl als der willkommene Vorwand.

Im offiziellen Bericht an seine Vorgesetzten notierte Dupetit Thouars auch klar, dass er es als dringend ansah, dass seine Mannschaft vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück auf dem Schiff war. Was er allerdings völlig unerwähnt liess, war die Tatsache, dass die elf Männer vor ihrer „Exekution“ noch Seppuku begingen…

Es ist fraglich, ob sich die Franzosen der ganzen Tragweite des Geschehens bewusst waren. Sie kamen als Zeugen zu einer Exekution aber was sie vorfanden waren Männer, welche ihre Ehre als Krieger retten wollten durch einen individuellen Akt der Selbstaufopferung.

Für europäische Offiziere gehörte die Anwesenheit bei einer Exekution zu einer soldatischen Pflicht und etwas, was der eine oder andere mit Sicherheit schon erlebt hatte. Sie mussten aber geahnt haben, dass bei diesem ungewohnten Vorgehen nicht einfach Verbrecher ihrer Strafe zugeführt wurden. Eine grössere und gravierendere kulturelle Dissonanz kann man sich kaum vorstellen.

Die neun Männer, welche durch den Gnadenakt des Kapitäns verschont geblieben sind, wurden einige Monate später in die Verbannung geschickt nach Tosa, ihrer Heimat. Es ist unschwer zu erkennen, dass dies kaum als Bestrafung angesehen wurde.
Die Männer aber haderten mit ihrem Schicksal, konnten doch ihre elf Kameraden glorreich sterben.

Für die elf Tosa-Samurai, die den Seppuku vollzogen, wurde im Myōkoku-ji selber ein Denkmal errichtet. Ihre eigentlichen Gräber befinden sich im Hōju-in, einem Tempel in der Nähe. Dort sollen auch die (leeren) Urnen der neun Überlebenden aufbewahrt sein.

Monument im Myōkoku-ji in Sakai

 


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