
Von all den gesellschaftlichen Schichten in der Bakumatsu-Periode war der Kuge (Hofadel) wohl am obskursten. Trotzdem hatten Mitglieder der Aristokratie zum Teil grossen Einfluss auf die Geschehnisse während dieser Zeit und der darauf folgenden Meiji-Periode. Sanjō Sanetomi war einer dieser Männer.
Der Kuge (公家)
Als Kuge wird gesamthaft der japanische Hofadel bezeichnet. Hinweis: Die Kriegerklasse (Bushi) ist damit ausdrücklich nicht gemeint.
In der Kofun-Periode (ca. 250 – 540 n.Chr.) wurde ein Grossteil Japans unter einem Herrschergeschlecht geeint, dessen Zentrum in der späteren Yamato-Provinz lag, also rund um Nara. Die Herrscher dieses Yamato-Staates waren eine erbliche Linie an Kaisern. Diese Linie besteht bis heute und gilt gemeinhin als die älteste Dynastie der Welt.
Rund um diese Herrscherfamilie gründeten sich ab dem 4. Jahrhundert sogenannten Uji, grosse Familienverbände der Oberschicht aus denen sich nach und nach der Kuge entwickelte. Später wurde dieser in zwei Klassen aufgeteilt. Diese Aufteilung bestimmte, welche Kuge-Familien welche offiziellen Posten erhielten.
Das System baute auf einer Clan-Struktur auf. D.h. mehrere Familien sind Teil eines grösseren Clans bzw. führen ihre Abstammung auf einen gemeinsamen Urahnen zurück und sind somit zumindest entfernt miteinander verwandt.
An oberster Stelle steht der kaiserliche Clan, sozusagen der Uradel. Dieser besitzt allerdings keinen eigenen Namen.
Danach folgen die vier edlen Clans:
- Fujiwara
- Minamoto
- Taira
- Tachibana
Natürlich formten sich innerhalb dieser vier Clans unterschiedliche Abstammungslinien (sogenannte „Häuser“). Aber der Ursprung konnte immer bis auf den Stammvater des originalen Clans zurückverfolgt werden.
Die Sanjō-Familie
Der Fujiwara-Clan unterteilte sich in vier Häuser, wobei das Hokke-Haus (das „nördliche“ Haus) das mächtigste war.
Die Fujiwara dominierten die japanische Politik und Administration während der gesamten Heian-Zeit (794 – 1185) und insbesondere der Hokke-Zweig übte enormen Einfluss aus aufgrund seines Monopols auf die Regenten-Posten Sesshō und Kampaku. Regenten übten meist die eigentliche Herrschaft eines noch unmündigen oder auch eines erwachsenen Kaisers aus.
Ebenso war die Heiratspolitik der Fujiwara berühmt-berüchtigt. Etliche Kaiser hatten Mütter aus der Fujiwara-Familie. Der Clan war also über Jahrhunderte eng mit der kaiserlichen Linie verbunden.
Auch nachdem Kriegerfamilien (Buke) ab der Kamakura-Periode die eigentliche Macht in Japan darstellten, übten Mitglieder des Fujiwara-Clans als engste Berater, Regenten oder Minister für den Kaiser politischen Einfluss aus. Auch die späteren Militärregierungen (Bakufu) suchten oft Bündnisse mit den Fujiwara.
Die Heiratspolitik der Fujiwara wurde bis ins 20. Jahrhundert weitergeführt. Nahezu alle Hauptfrauen der Kaiser und Kronprinzen stammten bis und mit Kaiser Yoshihito (Taishō) aus Fujiwara-Familien. Und kaiserliche Prinzessinen wurden oft mit Fujiwara-Männern verheiratet. Der Einfluss erstreckt sich also weit über tausend Jahre.
Die Sanjō-Familie stammt von Fujiwara no Kinzane (1053 – 1106) ab. Dessen Sohn Saneyuki benutzte als erster den Namen Sanjō. Der Name bezeichnete die Gegend in der kaiserlichen Hauptstadt Heian-kyō, wo seine Residenz lag. Die Familie gehörte zum mächtigen Hokke-Haus der Fujiwara.
Bereits Saneyuki bekleidete mächtige Ministerposten und während den nächsten Jahrhunderten übten auch andere Sanjō ähnliche hohe politische Funktionen am Kaiserhof aus.
Sanjō Sanetomi, der Wegbereiter von Sonnō Jōi am Kaiserhof
Sanjō Sanetomi’s Vater Sanetsumu war bis zu seinem Tod 1859 „Udaijin“ (Kanzler zur Rechten) während der Regierungszeit von Kaiser Kōmei. Die Mutter von Sanetomi war eine Tochter des 10. Daimyō von Tosa, Yamanouchi Toyokazu.
Als Sanetomi 22 Jahre alt war, fiel sein Vater im Oktober 1859 der Ansei-Säuberung zum Opfer.
Diese politische Verfolgung betraf rund hundert einflussreiche Personen im Bakufu, in diversen Provinzverwaltungen wie auch Adlige, welche sich gemeinsam gegen die Authorität des Shogunats und dessen Aussenpolitik stellten. Insbesondere die ungleichen Verträge, welche das Shogunat mit westlichen Mächten einging, führten zu massiven innenpolitischen Spannungen und entsprechender Opposition.
Im März 1860 wurde dann auf den Initiator und Hauptakteur der Säuberungen, den Tairō (Regent des Shōgun) Ii Naosuke ein tödliches Attentat verübt. Die Attentäter waren Samurai aus dem Mito-han und dem Satsuma-han. Diese beiden Han waren zusammen mit Tosa und Chōshū die massgeblichen Gegner des Tokugawa-Bakufu und zählten zum Lager der Kaisertreuen bzw. Loyalisten.
Der Konflikt zwischen dem Kaiserhof und dem Tokugawa-Bakufu konnte nun nicht mehr verborgen werden, waren doch führende Hofbeamte aktiv tätig in der Sonnō Jōi-Bewegung, welche eine Rückkehr des Kaisers zu wahrer politischer Macht anstrebte und bemüht war, den ausländischen Einfluss auf das Land zurückzudrängen.
Aufgrund seiner familiären Bindung (Grossvater mütterlicherseits war der Daimyō von Tosa) kam Sanetomi schon früh in Berührung mit Bakufu-kritischen Ideen und durch seine Position am Kaiserhof erhielten die Loyalisten dort erheblichen Einfluss auf die politische Linie.
Im hochkomplexen Gefüge der kaiserlich-höfischen Ränge der Vor-Meiji-Zeit hatte Sanetomi bereits in jungen Jahren eine hohe Stellung inne. So wurde er 1862 (im Alter von 25 Jahren) Chūnagon. Dieser Berater-Rang zählte zur zweithöchsten Gruppe von Verwaltungsrängen. Auch war er als Inhaber dieser Berater-Position bereits Mitglied des Daijō-kan (Staatsratsversammlung), dem höchsten Organ der vormodernen kaiserlichen Regierung.
In der Funktion als Chūnagon war er Anfang 1863 der Hauptvertreter einer kaiserlichen Gesandschaft, welche in Edo den Shōgun Tokugawa Iemochi persönlich dazu aufforderte, sich am kaiserlichen Hof in Kyōto einzufinden und Vorkehrungen zu treffen, um die Fremden des Landes zu verweisen.
Hierbei kam es zu einer bemerkenswerten Angelegenheit: Es gab ein ausgeklügeltes, striktes Zeremoniell, wenn der Shōgun einen kaiserlichen Gesandten zu einer Audienz empfing. Die Einzelheiten sind zu detailliert, um hier genau wiedergegeben werden zu können, aber das Zeremoniell lief darauf hinaus, dass die Stellung des Shōgun gegenüber der des kaiserlichen Gesandten (und somit gegenüber dem Kaiser) grundsätzlich unangefochten blieb.
Sanjō Sanetomi jedoch fand sich mit dem althergebrachten Protokoll nicht mehr ab, da er dadurch das kaiserliche Ansehen beschädigt sah. Er bestand konsequent auf einer Änderung der Formalitäten, so dass seine Stellung und die des Kaisers eine höhere Achtung erfuhr. Nach längeren Verhandlungen liess sich das Bakufu auf die gewünschten Änderungen ein.
Es gab wohl kaum ein stärkeres Zeichen, die veränderten Beziehungen zwischen dem Shogunat und dem Kaiserhof deutlich zu machen.
Der Aufforderung nach Kyōto zu reisen, kam der Shōgun im April 1863 nach. Dies war das erste Mal nach über 230 Jahren, dass sich ein Shōgun wieder am Kaiserhof einfand.
Ab Mitte 1863 bis Ende 1864 kam es zu einer Art Putsch, welcher den Vertretern des Tokugawa-Bakufu kurzzeitig wieder die Oberhand verschaffte. Westliche Mächte unterstützten dabei das Shogunat durch Bombardierungen und sonstige militärische Interventionen gegen die Gegner des Bakufu.
Im Zuge dieses Putsches mussten zahlreiche Vertreter der Sonnō Jōi-Bewegung untertauchen, unter ihnen auch Sanjō Sanetomi (zusammen mit sechs weiteren Hofbeamten). Er fand zuerst Zuflucht in Chōshū, wo er in der Hafenstadt Mitajiri unter dem Schutz des Mōri-Clans stand.
Später hielt er sich dann in Dazaifu auf, in der Nähe von Fukuoka, welches im Gebiet des Kuroda-Han lag. In Dazaifu lebte er auf dem riesigen Areal des Dazaifu Tenman-gū, eines wichtigen Shintō-Schreines und wurde von loyalen Tosa-Männern bewacht.

Die folgenden zwei Jahre waren geprägt durch die Machtkämpfe (politisch wie auch militärisch) zwischen den massgeblichen Akteuren: die westjapanischen Loyalisten in Tosa, Chōshū und Satsuma zusammen mit dem Kaiserhof gegen das Tokugawa-Bakufu.
Der Lauf der Geschichte ändert sich…
Im August 1866 verstarb der erst 21-jährige Shōgun Tokugawa Iemochi. Sein Nachfolger Yoshinobu sollte der letzte Shōgun überhaupt sein.
Seit Juni 1866 führte das Bakufu eine Strafexpedition gegen Chōshū durch, allerdings mit verheerenden militärischen Folgen für die Tokugawa-Truppen. Eine der ersten Amtshandlungen von Yoshinobu war die Vereinbarung eines Waffenstillstands mit Chōshū-Truppen. Trotzdem war das Prestige und die Authorität des Shogunats schwer angeschlagen.
Kurz darauf, Ende Januar 1867, verstarb noch Kaiser Komei im Alter von 36 Jahren. Sein Sohn Mutsuhito trat seine Nachfolge einige Tage später an. Sanjō Sanetomi erfuhr davon in seinem Exil auf Kyūshū.
Yoshinobu war eigentlich ein fähiger Verwalter und versuchte noch, die Regierung unter dem neuen Kaiser zu reorganisieren und somit auch seinem Shogunat das Überleben zu sichern. Einige einflussreiche Daimyō arbeiteten allerdings gezielt gegen solch einen Ausgang der Machtstreitigkeiten, sahen sie sich doch kurz vor ihrem eigentlichen Ziel, der Restauration kaiserlicher Macht.
Satsuma und Chōshū haben darauf hingewirkt, dass im Namen des neuen Kaisers Meiji ein Geheimbefehl erstellt wurde, der darauf abzielte, „den Verräter Yoshinobu vollständig zu vernichten“. Bevor dieses kaiserliche Edikt verkündet wurde, gab Yoshinobu sein Amt und Authorität als 15. Shōgun am 9. November 1867 auf.
Nun begannen sich die Ereignisse zu überschlagen.
Anfang Januar 1868 besetzten Truppen aus Satsuma und Chōshū den kaiserlichen Palast in Kyōto und brachten den 15-jährigen Kaiser dazu, die Restauration seiner vollständigen politischen Macht zu verkünden.
Einige Tage schien es so, als ob sich Yoshinobu mit dieser kaiserlichen Proklamation einverstanden erklärte. Mitte Januar verkündete er jedoch, sich nicht daran gebunden zu fühlen und forderte sogar, das sie zurückgezogen wird!
Yoshinobu hielt sich im Schloss Osaka auf und entschied sich dazu, Kyōto anzugreifen. Vorgeblich, um den jungen Kaiser Meiji von den Satsuma- und Chōshū-Elementen zu „befreien“, welche am Hof dominierten.
Am 27. Januar 1868 setzte sich die rund 15‘000 Mann starke Tokugawa-Armee in Bewegung Richtung Norden ins rund 25 Kilometer entfernte Kyōto. Kurz vor der Stadt, in der Gegend rund um Toba-Fushimi kam es zu Gefechten, welche vier Tage anhielten. Obwohl die Tokugawa-Streitkräfte eine Übermacht von 3 zu 1 besass, endete dieser Beginn des Boshin-Krieges mit einer herben Niederlage für Yoshinobu.
In der Nacht vom 31. Januar floh Yoshinobu zudem aus dem Schloss Osaka nach Edo und überliess Osaka somit seinen Gegnern.
Der Boshin-Krieg dauerte in unterschiedlicher Intensität noch bis Juni 1869, als sich die letzten Tokugawa-Getreuen auf Hokkaidō geschlagen geben mussten.

Die Zeit während und nach der Meiji-Restauration
Sanjō Sanetomi kehrte bereits nach dem Rücktritt von Yoshinobu im November 1867 nach Kyōto zurück, wohl um sich auf die neu anbrechende Zeit vorzubereiten. Auch während seinem Exil erhielt er hochrangige Besuche und pflegte wichtige Kontakte, hauptsächlich zu Vertretern aus den Loyalisten-Gebieten Satsuma, Chōshū, Tosa und Mito.
Die Meiji-Regierung und deren oberste Verwaltung setzte sich erwartungsgemäss zu grossen Teilen aus Männern zusammen, die davor jahrelang gegen das Tokugawa-Bakufu gekämpft hatten und oftmals grösste Opfer dafür erbrachten. Diese frühe Führungsschicht des modernen Japan nennt man auf japanisch Hanbatsu.
Um sich dies zu verdeutlichen, hier eine Zusammenstellung nach Herkunft der wichtigsten Persönlichkeiten:
Tosa-Han: 3
Choshu-Han: 6
Satsuma-Han: 9
Saga-Han: 3
Kuge: 3
Ehemalige Bakufu-Getreue: 2
In der ersten kaiserlichen Regierung, welche Ende 1867 proklamiert wurde, bekleidete Sanjō Sanetomi als einer der drei Vertreter des Kuge von Beginn an hohe Staatsämter.

Um der neuen Meiji-Regierung einen stabilen Rahmen zu geben, wurden im Januar 1868 drei Ämter geschaffen: Sōsai (in etwas „Präsidialamt“), Gijō (Administration) und San’yo (Berateramt).
Hier diente er in einer Doppelfunktion als Fukusōsai (Vize-Präsident) und Generalsekretär. Gleichzeitig war er Gouverneur der acht Kantō-Provinzen.
In den ersten paar Jahren der kaiserlichen Regierung kam es zu diversen Umstrukturierungen, welche oft kurz aufeinander folgten. Die oben erwähnten drei Ämter wurden im Juni 1868 bereits wieder abgeschafft um für ein reformiertes Daijō-kan (Staatsratsversammlung) Platz zu machen, in dem Sanetomi zum Udaijin (Minister zur Rechten) ernannt wurde.
Kaiser Meiji etablierte im Mai 1869 ein neues Amt für Geschichte um eine offizielle „Geschichte von Japan“ zu verfassen. Zum Chefredaktor dieses Unterfangens ernannte der Kaiser Sanjō Sanetomi.
Sanetomi zählte zu den absolut engsten Vertrauten des Kaisers und begleitete diesen praktisch immer auf dessen Reisen quer durch das Land; etwas, dass noch kein Kaiser vor ihm je tat.
Ab August 1871 war Sanetomi dann in der Funktion als Grosskanzler (Daijō-daijin) tätig, bis 1885 diese Position abgeschafft wurde mit der Einführung eines Kabinett-Systems nach westlichem Vorbild.
Als 1884 eine neue Adelsklassifizierung geschaffen wurde (Kazoku), ernannte der Kaiser Sanetomi zum Fürsten. Die Klassifizierung war an das britische Peerage-System angelehnt und unterteilte die Ränge in fünf Stufen, wovon der Fürstenrang an erster Stelle stand.
Im modernen Kabinett-System der Regierung ab 1885 wurden etliche alte Funktionen abgeschafft, allerdings blieb das Amt des Naidaijin bestehen, welches Sanetomi bekleidete. Interessanterweise befand sich dieses Amt ausserhalb des Kabinetts. Der Naidaijin war direkter und persönlicher politischer Berater des jeweiligen Kaisers. Ausserdem war er verantwortlich für die Aufbewahrung des kaiserlichen Siegels und die Verkündung kaiserlicher Edikte. In Anlehnung an ähnliche Titel/Funktionen in Europa lautet die Übersetzung meist „Lordsiegelbewahrer“ oder „Lord Keeper of the Privy Seal“.
Sanjō Sanetomi war der erste Naidaijin der Moderne und hielt diese Amt inne bis zu seinem Tod am 18. Februar 1891.

1889 war Sanetomi kurzzeitig für zwei Monate der Premierminister von Japan, nachdem Premier Kuroda Kyotaka zurücktreten musste. Kaiser Meiji akzeptierte den Rücktritt Kurodas und setzte umgehend Sanetomi ad interim ein bis zur Wahl des 3. Premierministers.
Die Rolle von Sanjō Sanetomi in Bezug auf den Wechsel von der feudalen Tokugawa-Herrschaft zur Regentschaft des Kaisers und der Formung der ersten Jahrzehnte der Meiji-Zeit kann nicht genug gewürdigt werden. Trotzdem steht er meist im Schatten anderer prominenter Persönlichkeiten aus der Sonnō Jōi-Bewegung.