Die Natur des „Ura“

Sobald über Koryū diskutiert wird, ist auch schnell die Rede von den sogenannten „Ura-Inhalten“ (Geheim-Inhalte).
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass dieses Konzept einerseits mitleidig belächelt, andererseits aber krass missverstanden und fehlinterpretiert wird.

 

Japanische Gesellschaft und Ura/Omote, Honne/Tatemae und Uchi/Soto in Kurzform

Wie so vieles kann auch dieses Thema nicht losgelöst von der Kultur und Gesellschaft Japans betrachtet werden. Im Gegenteil: Hierbei geht es richtig „ans Eingemachte“.

Die Gegensatzpaare Ura/Omote, Honne/Tatemae und Uchi/Soto sind sozusagen die Säulen der japanischen Gesellschaft.
Diese Gegensatzpaare unterscheiden sich in ihrer Bedeutung zum Teil erheblich, haben allerdings definierte Berührungspunkte und Überschneidungen.

 

Uchi/Soto

Dies ist wohl das am einfachsten zu definierende Wortpaar (was immer man unter „einfach“ versteht im Zusammenhang mit Japan 🙂 ).

Uchi (内) bedeutet innen und Soto (外) bedeutet aussen. Damit wird vorallem Bezug genommen auf sogenannte „In-groups“ und Out-groups“ innerhalb der japanischen Gesellschaft.

Jede Person gehört zu verschiedenen „In-groups“ (z.B. Familie, Firma, Club) und dementsprechend auch zu vielen „Out-groups“. Auch wenn man das Konzept geographisch benutzen kann, ist damit aber meist der Beziehungsstatus zwischen Menschen gemeint.

Dies wiederum hat einen grossen Einfluss auf die Sprache. Mit jemandem ausserhalb der eigenen Gruppe spricht man anders (unterschiedliche Höflichkeitsfloskeln etc.) als mit jemandem, der Teil einer eigenen Gruppe ist.

Natürlich ist das sehr rudimentär dargestellt, da oftmals mehrere Ebenen innerhalb einer Gruppe existieren. Z.B. ist die Firma bei der man arbeitet zwar eine „In-group“ als Ganzes. Aber innerhalb der Firma gibt es verschiedene Abteilungen wobei die „eigene“ Abteilung natürlich die In-group ist während andere Abteilungen für einen selbst als Out-group definiert sind, usw.

 

Honne/Tatemae

Die Idee des Honne/Tatemae trägt wohl am meisten zum teilweisen Unverständnis Japans im Westen bei und zum wenig schmeichelhaften Attribut der „Falschheit“ in Bezug auf Japaner und Japanerinnen.

Honne (本音) bezeichnet hier die wahre Meinung und die echten Gefühle einer Person, wobei Tatemae (建前) für die sozialen Verpflichtungen und das „sich Anpassen“ an Situationen steht, wenn die eigenen Gefühle damit nicht vollends übereinstimmen.
Vereinfacht gesagt: Honne ist das, was jemand tatsächlich denkt und fühlt und Tatemae das, was er oder sie äussert.

Im Westen gilt Ehrlichkeit als eine der höchsten Tugenden. In Japan hat allerdings das Bewahren bzw. das Herstellen von Harmonie einen höheren Stellenwert. Darum werden „wahre“ Gedanken selten direkt und geradeheraus postuliert, aus Angst das Gegenüber vor den Kopf zu stossen und somit das Gespräch oder die Situation unnötig zu belasten. Honne/Tatemae ist somit eine ausgefeilte Kulturtechnik.

Natürlich kann man in keiner Gesellschaft leben, welche die totale Ehrlichkeit zelebriert. Auch im Westen kennt man gesellschaftliche Konventionen, passt sich an Gegebenheiten an und wirft den Mitmenschen nicht alle persönlichen, ungeschminkten Gedanken an den Kopf. Allerdings wurde dies in Japan zu einer überragenden Kunstform erhoben und die Beherrschung dieser gilt wohl als höchste Form der Sittlichkeit.

 

Ura/Omote

Nun also zum ominösen U-Wort… und dessen Gegenstück.

Zuerst beginne ich mit Omote (表). Dieses Wort bezeichnet generell das Äussere, die Oberfläche oder den sichtbaren Teil einer Sache oder eines Gegenstandes. Auch ist damit allgemein das Erscheinungsbild gemeint. Vorallem impliziert der Begriff das Gefühl von „da steckt mehr dahinter“.
Merke: Die in Japan so wichtige Etikette im sozialen Umgang ist immer „Omote“. Und das ist wiederum Bestandteil des oben beschriebenen „Tatemae“.

Ura (裏) nun ist dieses „mehr“ und hat eine Vielzahl an Bedeutungen: Etwas Unsichtbares, die Unter- oder Rückseite, etwas das im Schatten liegt oder einfach das Gegenteil einer Sache.
Bei all diesen Erklärungen taucht etwas nicht direkt auf; das Geheime. Obwohl es doch eigentlich genau das ist, mit dem man „Ura-Inhalte“ üblicherweise verbindet…

Ura bezeichnet also lediglich etwas, das nicht auf den ersten Blick offensichtlich ist. Wie zum Beispiel die Rückseite eines Blatt Papiers. Um diese sehen zu können, muss man das Blatt in die Finger nehmen und es umdrehen.

Omote und Ura sind also keine verschiedenen Angelegenheiten, ganz im Gegenteil: Sie gehören untrennbar zusammen und zeigen jeweils eine Facette des Ganzen (siehe das Blatt Papier).

Ein interessantes Beispiel, warum man diese beiden Begriffe aber nicht mit allzuviel Mystik aufladen sollte, bieten die berühmten Teeschulen Omotesenke und Urasenke in Kyōto. Die beiden Schulen gehören zu den sogenannten San-Senke (die drei Sen-Familien) und gehen alle auf Nachfahren von Sen no Rikyū (1522 – 1591) zurück. Die dritte Schule ist die Mushakōjisenke.
Beide Schulen bzw. deren Anwesen liegen an derselben Strasse in Kyōto, wobei sich die Urasenke nördlich der Omotesenke befindet (also sozusagen dahinter). Das ist das ganze „Geheimnis“ hinter diesen Namen! Das Grundstück der Mushakōjisenke liegt an der Mushakōji-Strasse in Kyōto.

Natürlich gibt es auch in den vielen Schulen der schönen Künste (Theater, Musik, Dichtkunst, Teezubereitung, Malerei etc.) und bei Handwerken jeweils Omote- und Ura-Inhalte. Und auch dort ist der Zugang zu den Ura-Teilen stark begrenzt.

Dieser typische Dualismus zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte japanische Kultur.

In tradierten Ryūha sind Ura-Inhalte ein wesentliches Kernkonzept und werden sehr ernst genommen. Natürlich kann auch ich keine allgemein gültigen Aussagen zu allen Schulen treffen, aber in der überwiegenden Mehrheit wird es immer noch so sein, das Ura-Kata und Ura-Waza nur an ausgewählte und fortgeschrittene Schüler weitergegeben werden.

Dies verlangt grosses Fingerspitzengefühl des Schuloberhauptes. Werden die Ura-Bestandteile der Schule an zu wenige Schüler weitergegeben, besteht immer die Gefahr, dass essentielle Teile der Lehren plötzlich verlorengehen können. Werden zuviele Schüler eingeweiht ohne über genügend Basis- und Fortgeschrittenen-Wissen zu verfügen, werden Ura-Inhalte verwässert oder im falschen Kontext weitergegeben. Beides sind sicher keine idealen Aussichten.

Die Ura-Komponenten einer Schule umfassen meist sowohl technisches und praktisches Wissen als auch philosophisch-mystisches Wissen. In gewissen Fällen kann das auch religiös-esoterische Praktiken umfassen.

 

Was „Ura-Inhalte“ NICHT sind

Es sind nicht einfach nur „höhere“ Kata innerhalb einer Ryūha. Natürlich sind es meist Lehren, welche im Curriculum zu einem späteren Zeitpunkt auftauchen, aber es ist wesentlich mehr als nur der technische Schwierigkeitsgrad.

Es sind nicht Kata oder Techniken, welche man einfach öffentlich nicht zeigt. Dafür braucht man keine Ura-Inhalte, schliesslich wird auch die Vielzahl der Omote-Kata nicht öffentlich gezeigt.

 

Fazit

Für das Verständnis von klassischen Kriegsschulen (Koryū Bujutsu), selbst wenn dies nur theoretisch ist, ist es notwendig die beschriebenen Nuancen zu kennen und zu wissen, woher sie stammen.

Man mag sich fragen, ob solche Restriktionen für den Zugang zu Ura-Kenntnissen heutzutage noch zeitgemäss sind. Meistens stellen sich solche Fragen aber hauptsächlich die „Zaungäste“, sprich Leute, die gar nicht Mitglied einer solchen Schule sind.
Zum Glück halten sich aber die meisten Ryūha eher selten mit dem Zeitgeist auf. Die Schule muss einzig und allein darum besorgt sein, dass ihre Prinzipien weiterhin voll einsatzfähig sind und bleiben. Und dazu gehört, dass Ura-Inhalte möglichst gut behütet gehören.


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