Bunbu ichi (文武一致)- reloaded

Ein wenig mit Schrecken (siehe Bild! *) musste ich die Tage feststellen, dass mein Artikel zu Literaturvorschlägen aus dem Bereich der klassischen japanischen Kriegskünste ziemlich genau 10 Jahre alt ist. 10 JAHRE!
In der Tat, die Zeit zerrinnt zwischen den Fingern…

Aber genug der Melancholie!

Mittlerweile haben sich etliche neue Bücher hinzugesellt. Allerdings kaufe ich mehr mit Bedacht und meist sehr spezifisch. Auch habe ich meine viel zu grosse Bibliothek ausgedünnt. Ballast abwerfen tut immer gut. Den Regalen und der Seele.

Mein Interesse und die Leidenschaft für die Bakumatsu-Epoche dürfte ja hinlänglich bekannt sein. Natürlich schlägt sich das teilweise auch bei meinen Neuerwerbungen in den vergangenen Jahren nieder.

Und da gibt es meiner Meinung nach durchaus Einiges, was dem einen oder anderen als Literatur-Anregung dienen kann.

Es werden sieben Bücher vorgestellt und ich habe versucht, einen guten Mix zu finden zwischen Kriegskunst-bezogen, Historie und Geistesgeschichte. Ich versuche, so wie im ersten Artikel, die Bücher jeweils kurz zusammenzufassen.

Beginnen möchte ich mit dem fettesten Schinken, wortwörtlich:

EMPEROR OF JAPAN – Meiji and his World, 1852 – 1912
Autor: Donald Keene / Verlag: Columbia University Press

Donald Keene war ein Urgestein der (US)-Japanologie und Übersetzer einer Vielzahl von klassischen und modernen Werken der japanischen Literatur. So übersetzte er u.a. die Werke von Mishima Yukio, mit dem er auch befreundet war.
Um seine lebenslange Verbundenheit mit Japan zu bezeugen, siedelte er kurz nach dem schweren Tōhoku-Erdbeben 2011 nach Japan über, beantragte die japanische Staatsbürgerschaft (welche er erhielt) und verbrachte seinen Lebensabend dort bis zu seinem Tod im Februar 2019. Er wurde 96 Jahre alt.

Das vorliegende Buch kann man ohne Übertreibung als das Standardwerk zur Geschichte der Entstehung des modernen Japan bezeichnen. Vordergründig ist es die (extrem detaillierte) Biographie des 122. japanischen Kaisers, der die Nation in die Moderne führte. Aber natürlich wird die gesamte Vorgeschichte (also Bakumatsu-Ära) seiner Regentschaft sowie die grossen politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Umwälzungen nach 1868 ebenso leidenschaftlich thematisiert.
Der Detailreichtum (auf über 900 Seiten!) ist wirklich überragend. Keene erhielt vom japanischen Kaiserhaus unter anderem direkten Zugang zu deren Archiven und es ist faszinierend zu lesen, wie Keene davon Gebrauch machte.

Dieses Werk kann ich jedem Leser wärmstens empfehlen. Und definitiv nicht nur, wenn man sich für das Japan des 19. Jahrhunderts interessiert! 😉

Bleiben wir doch gleich in der Meiji-Zeit…

Chōshū in the Meiji Restoration
Autor: Albert M. Craig / Verlag: Lexington Books (Rowman & Littlefield Publishers)

Ich muss sogleich etwas enttäuschen: Das vorliegende Buch wurde nicht von einem Literaten, wie Donald Keene einer war, geschrieben. Für den durchschnittlichen Leser mag es durchaus „langweilig“ sein. Aber für diese Klientel ist es auch nicht gedacht.

Es ist eine intensive Auseinandersetzung mit der Anatomie eines der wichtigsten Han, welches die Meiji-Restauration erst möglich machte. Chōshū’s Anteil an der Restauration war immens und einige der bekanntesten Figuren der Bakumatsu-Periode stammten von hier: Yoshida Shōin, Takasugi Shinsaku und Kido Takayoshi. Und ebenso der erste Premierminister Japans, Itō Hirofumi.

Zuerst wird dargelegt, wie die Wirtschaft und Finanzen Chōshū’s zentral waren, um die Restaurationsbewegung anzukurbeln und schlussendlich zu leiten. Ebenso wird die intellektuelle Ideengeschichte der Zeit untersucht und wie diese gerade in Chōshū äusserst wichtig war.

Der zweite Teil befasst sich damit, wie Chōshū in der nationalen Politik zu einer Kraft wurde in den Jahren 1861 – 1863 und in der Meiji-Regierung nach 1868 eine herausragende Stellung erreichte.

Dieses Buch eignet sich sicher eher für Leser, welche bereits über relativ gute Vorkenntnisse zur gesamten Bakumatsu/Meiji-Geschichte verfügen. Für diese kann das vorliegende Werk wie eine Art Vergrösserungsglas dienen, durch welches man die bekannte „grosse“ Bakumatsu-Geschichte auf das wichtigste Han projizieren kann.

Confucianism and Tokugawa Culture
Autoren: Diverse, herausgegeben von Peter Nosco / Verlag: Princeton University Press

Die Gleichsetzung „JAPAN = ZEN“ dürfte den meisten bekannt sein. Mittlerweile sollte aber auch allgemein bekannt sein, wie falsch das ist… sollte.

Wäre man jedoch gezwungen eine Gleichung aufzustellen, müsste sie so aussehen: „JAPAN = KONFUZIANISMUS“ (wenn auch nicht uneingeschränkt, klar). Damit können aber die allerwenigsten etwas anfangen, denn „Konfuzius“ ist nur bekannt im Zusammenhang mit lustigen Sprüchen die beginnen mit „Konfuzius hat gesagt,…“.

Dabei hatte eigentlich keine Geistesströmung die ostasiatischen Gesellschaften so vollständig durchdrungen wie der Konfuzianismus (in diversen Ausformungen). Auch wenn der Konfuzianismus gewisse religiöse Elemente in sich trägt, so ist er doch hauptsächlich eine staatspolitisch-moralphilosophische Lehre.

Das Tokugawa-Bakufu war nach 1600 gezwungen, seine Macht in ganz Japan zu konsolidieren und nutzte dazu den Neokonfuzianismus, der ca. im 12. Jahrhundert in China aus dem „alten“ Konfuzianismus entstanden war. Auf die Unterschiede gehe ich hier nicht näher ein, das würde zu weit führen.

Das Buch mit zehn Essays bekannter Wissenschaftler zeigt in relativ chronologischer Sicht, wie sich die Tokugawa dieser Lehre bedienten und wie nach und nach eine eigentliche „Tokugawa-Ideologie“ daraus entstand, wie das Verhältnis des Neokonfuzianismus zu Buddhismus und Shintô war und welche bekannten neokonfuzianischen Gelehrte und Schulen das 19. Jahrhundert in Japan hervorbrachte. Insbesondere der letzte Punkt ist sehr spannend im Hinblick auf die Sonnō jōi-Bewegung (Stichwort Mitogaku!).

Auch hier ist eine gewisse Vorbildung notwendig und man sollte sich für philosophisch-politische Fragen interessieren. Aber man wird belohnt mit einem eindrücklichen Einblick in das Denken der Edo-Periode.

Nun machen wir einen grossen Schlenker in Richtung Kriegskunst…

Shindō Yōshin Ryū – History and Technique
Autoren: Tobin
Threadgill und Shingo Ohgami / Selbstverlag, New Willow Press

Ausführliche Bücher zu einer ganz spezifischen Ryūha haben Seltenheitswert. Darum ist es immer erfreulich, wenn wieder mal eines erscheint, ganz egal zu welcher Schule.

Vorliegen haben wir hier ein neues (2019), umfassendes Werk zur Shindō Yōshin-ryū, eine sehr einflussreiche Schule des Jūjutsu gegen Ende der Edo-Periode.

Threadgill-sensei dürfte vielen Lesern ein Begriff sein: Er ist der Kaichō und Shihan der Takamura-ha Shindō Yōshin-ryū, welche ihr Honbu-Dōjō heute in Colorado (USA) hat.
Ohgami-sensei war ein bekannter Karate-Lehrer der Wadō-ryū und Erforscher der Budōgeschichte. Er verstarb 2019. Man mag sich fragen, was wohl ein Karateka mit einem Buch über Koryū-bujutsu zu tun hat… Nun, die Verbindung der Shindō Yōshin-ryū mit dem modernen Wadō-ryū geht zurück auf dessen Gründer Ōtsuka Hironori. Dieser studierte das Jūjutsu der Shindō Yōshin-ryū zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele Jahre lang und wurde später ein Schüler von Funakoshi Gichin, der das Karate aus Okinawa mitbrachte. 1938 schliesslich verschmolz Ōtsuka die beiden Lehren zu seiner Wadō-ryū, welche tatsächlich viele technische Elemente der Shindō Yōshin-ryū besitzt.

Das Buch ist ein Mammut-Projekt, deckt es doch im Detail die umfangreiche Geschichte der Ryūha und ihrer unterschiedlichen Lehrlinien ab, angefangen bei den Wurzeln im 17. Jahrhundert. Auch gehen die Autoren auf die umfangreichen esoterischen Lehren der Schule ein.

Etwa ein Drittel des Buches befasst sich in zahlreichen Bildserien mit den technischen Aspekten. Dieser Teil dürfte nur für Mitglieder der Schule von Belang sein. Nichtsdestotrotz ist es interessant, einen kleinen Einblick erhaschen zu können.

Einen Wermutstropfen gibt es allerdings (aber vielleicht stört es auch nur mich): Bekanntlich wurde Edo im Jahre 1869 vom neuen Meiji-Kaiser in Tōkyō umbenannt. Im Buch wird selbstverständlich von der Edo-Periode gesprochen, aber auch bei Ereignissen und Begebenheiten VOR 1869 wird durchgängig  „Tōkyō“ benutzt, wenn es um die Stadt Edo geht. Das ist durchaus störend, weil man nie sicher ist, über welche Zeit gerade diskutiert wird und man wieder kurz zurückblättern muss um sich zu vergewissern.

Aber das sollte niemanden davon abhalten, dieses grossartige Buch zu lesen, wenn man sich über eine der einflussreichen Jūjutsu-ryūha in Japan informieren will.

Die beiden folgenden Bücher stammen vom selben Autor und befassen sich ausführlich mit der Bakumatsu-Periode ( 🙂 ).

Samurai Revolution – The dawn of modern Japan seen through the eyes of the Shogun’s last Samurai
Autor: Romulus Hillsborough / Verlag: Tuttle Publishing

Ja, der Titel ist sehr catchy, was bei US-Autoren oft der Fall ist. Aber er ist deshalb nicht falsch. Ganz im Gegenteil.

Das Buch behandelt im ersten Teil den Niedergang des Tokugawa-Bakufu (1853 – 1868) und im zweiten Teil den Aufstieg des kaiserlichen Japan (1868 – 1878). Allerdings werden diese Jahrzehnte aus dem Blickwinkel von Katsu Kaishū (1823 – 1899) erzählt und somit behandelt das Buch auch seine Biographie. Er war eine der grossen Persönlichkeiten der Epoche. Er hatte Weitblick, was die Zukunft Japans anging, aufgrund seiner Loyalitäten war er jedoch an das Tokugawa-Bakufu gebunden. Man mag sich seine Zerrissenheit gar nicht ausmalen wollen!

Einige wenige bemerkenswerte Stationen seines Lebens möchte ich hier noch teilen:

  • Zwischen 1855 und 1859 leitete er die vom Bakufu gegründete Marine-Akademie in Nagasaki
  • 1860 diente er als Kapitän auf dem Kriegsschiff „Kanrin-maru“ und brachte so die erste japanische Delegation in die USA (San Fransciso und Washington D.C.). Er selbst verbrachte zwei Monate in San Francisco und studierte eingehend die amerikanische Kultur, Technologie und Gesellschaft (inkl. diverser amouröser Abenteuer, wie man munkelt!).
  • Ab 1866 diente er als Verhandlungsführer zwischen dem Tokugawa-Bakufu und dem kaisertreuen Chōshū-han und stellte später einen verhältnismässig friedlichen Übergang der Regierungsgewalt an die Meiji-Regierung sicher.
  • Als einer der ganz wenigen Tokugawa-Getreuen hatte er in der Meiji-Regierung hohe und höchste Regierungsposten inne.

Die Kapitelnamen des Buches beginnen alle mit „The Outsider ….“. Das ist eine Anspielung darauf, wie sich Katsu Kaishū selbst sah. Denn seine Herkunft und frühen Jahre waren alles andere als glorreich, obwohl sein Aufstieg später ausserordentlich war.

Hillsborough ist ein guter Erzähler und es macht Spass, in die Bakumatsu-Geschichte einzutauchen! Die Verwendung von Fussnoten wird manchmal etwas exzessiv gehandhabt, aber Hillsborough möchte sicherstellen, dass der Leser die Zusammenhänge versteht. Und das ist bei der oft verwirrenden und ausufernden Geschichte dieser Periode zwingend notwendig.

Samurai Assassins – „Dark Murder“ and the Meiji Restoration, 1853 – 1868
Autor: Romulus Hillsborough / Verlag: McFarland & Company, Inc., Publishers

Wie erwähnt, stammt auch dieses Buch aus der Feder von Romulus Hillsborough. Es behandelt eine der dunklen Seiten der Bakumatsu-Epoche: Politische Morde.

Anhand von drei berühmten Anschlägen wird allgemein die Geschichte von politisch motivierten Morden während den letzten beiden Jahrzehnten der Edo-Periode untersucht.

Das waren die Anschläge auf den Daimyō Ii Naosuke im Jahre 1860, den Reformer des Tosa-han Yoshida Tōyō im Jahre 1862 und schliesslich der Mord an Sakamoto Ryōma im Jahre 1867.

Wie in der vorangegangenen Buchbeschreibung erwähnt, war diese Epoche durchaus chaotisch-brutal und oft waren die Loyalitäten keineswegs so klar und eindeutig, wie manche sich das vorstellen mögen (Stichwort: romantisiertes Bild des „edlen Samurai“).
Eigentliche Killerkommandos gab es sowohl bei den Verfechtern der kaiserlichen Restauration wie auch bei den Tokugawa-Vasallen.

In dem eindrücklichen Buch geht es nicht einfach nur um eine Chronik der bekannteren Anschläge. Vorallem wird die Ideologie und Moral der Männer untersucht, welche die Revolution vorantrieben und wie stark die Philosophie der „Kaisertreue“ sie beeinflusste.
Dieses Buch kann man durchaus als Folgewerk zu „Samurai Revolution“ sehen, wobei hier eben der Fokus auf einen ganz speziellen Aspekt gelegt wird.

Auch hier gelingt es Hillsborough vorbildlich, die Bakumatsu-Periode vor dem geistigen Auge zum Leben zu erwecken (pun intended 😉 ).

Insbesondere für Leser, welche sich für die Geschichte von Schwertkampfschulen interessieren, bietet die Lektüre viele aufschlussreiche Fakten!

Womit wir schon beim letzten Buch wären…

Suicidal Honor – General Nogi and the writings of Mori Ōgai and Natsume Sōseki
Autorin: Doris G. Bargen / Verlag: University of Hawai’i Press

Wir entfernen uns nun von der Bakumatsu-Zeit und treten in die Meiji- und Taishō-Periode ein.

Während meiner Zeit in Japan habe ich es geliebt, die stilleren und versteckten Orte in Tōkyō zu suchen. Ich erinnere mich noch gut, wie ich mich eines Tages im Akasaka-Bezirk vorfand und dort einen kleinen, ruhigen Park besuchte. Es war der Nogi-Park und er gehört zu einem grösseren Anwesen, welches auch den Nogi-jinja (Nogi-Schrein) beherbergt. Ich weiss nicht mehr, ob es sich um einen speziellen Event handelte oder nicht, aber ich war über die relativ vielen Besucher überrascht in diesem doch eher kleinen Shintō-Schrein. Erst als ich die Informationstafeln las, wurde mir klar, wie bedeutend der Nogi-jinja eigentlich war!

Und einige Jahre später fiel mir dieses Buch in die Hände, was mir die Möglichkeit gab, mich intensiver mit der Meiji-Zeit und einem der berühmtesten Generäle der Epoche zu befassen, Nogi Maresuke.

Das Buch behandelt ein Thema, welches seit der Edo-Zeit kaum mehr Beachtung fand: Die Praxis des Junshi, also dem eigenen Herrn in den Tod folgen.

Als Kaiser Meiji am 13. September 1912 zu Grabe getragen wurde, vollzog Nogi zusammen mit seiner Frau Shizuko Seppuku. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, war doch General Nogi eine der prominentesten Figuren des gesellschaftlichen Lebens der Meiji-Zeit.
In Literaten-Zirkeln und der Presse wurde über die Gründe und die historische Bedeutung der Tat viel spekuliert und diskutiert.

Die Autorin behandelt in Teil 1 des Buches zuerst den religiösen Kontext ritueller Selbsttötung im Allgemeinen und Junshi im Speziellen.
Der 2. Teil befasst sich mit der Biographie von Nogi Maresuke, welche bereits erste Anhaltspunkte für seinen finalen Akt liefert.
Im letzten Teil geht es um den Stellenwert des gemeinsamen Seppuku in der japanischen Literatur der Zeit. Die beiden Grössen der japanischen Literaten-Szene zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Mori Ōgai und Natsume Sōseki, liefern die Texte, welche von der Autorin analysiert werden.

Die Zeit der Jahrhundertwende war sehr bedeutend für Japan, schliesslich trat das Land erst vor einigen Jahrzehnten in das Bewusstsein der restlichen Welt, wobei es aber bereits westliche Mächte hinter sich liess.
Wer sich also Einblicke in das japanische Denken dieser Zeit verschaffen will, ist mit diesem Buch bestens bedient. Auch wenn der Hintergrund dazu für den einen oder anderen etwas morbid wirken mag.

* Der obige Farbholzschnitt stammt von Yoshitoshi (1839 – 1892), einem der letzten grossen Meister dieser Kunstgattung. In jungen Jahren war er bekannt für extreme Gewalt- und Todesdarstellungen. Auch die japanische Geister- und Dämonen-Welt war ein grosses Thema bei ihm.
Dieser Druck stammt aus einer Serie aus dem Jahre 1882 und zeigt die Geschichte des Malers Ōkyo, der einen Geist so real zeichnete, dass dieser sich plötzlich aus dem Bild heraus materialisierte.