Ästhetik, Ordnung und Koryū Bujutsu

Ästhetische Ansprüche und ein klarer Sinn für Ordnung werden heutzutage oft argwöhnisch betrachtet. Es widerspricht dem sogenannten „Zeitgeist“, der kaum noch übergeordnete Kategorien neben dem eigenen Individualismus duldet.
Allerdings muss man sich bewusst sein, dass man mit einer Ablehnung von Ästhetik und Ordnung nie auch nur an der Oberfläche von Koryū Bujutsu kratzen wird.


Die klassischen ästhetischen Ideale Japans

Klassische japanische Ästhetik bevorzugt Aspekte, welche häufig nicht ohne Weiteres auf das westliche Empfinden übertragen werden können. Ich möchte hier versuchen einige wenige Begriffe zu erläutern, allerdings ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Meist beziehen sich diese ästhetischen Prinzipien auf Gefühle und Stimmungen und weniger auf konkrete Tatsachen.
Wichtig ist mir dabei natürlich, die Verbindung zu den klassischen Kriegskünsten hervorzuheben.

Noch etwas: Diese klassische Ästhetik hat rein gar nichts zu tun mit dem plakativen und aufdringlichen „Zen-Buddhismus“ westlicher Provenienz, dem inflationär überall dort gehuldigt wird, wo irgendetwas mit „japanischen Kampfkünsten“ betrieben wird.
Auch geht es nicht um die „Ästhetik“, welche Laien möglicherweise in gewissen Bewegungen, Formen oder anderen physischen Attributen zu erkennen glauben. Bei wahren kriegerischen Traditionen ist die einzige Relevanz, wie sie sich im Kampf bewähren. Jegliche „Schönheit“ dabei ist nur ein Abfallprodukt.

Beginnen möchte ich gerne mit dem wohl schwierigsten Begriff, Yūgen (幽玄).
Damit wird eine ästhetische Ebene oder Dimension bezeichnet, welche ürsprünglich dunkel, nebulös, rätselhaft meinte. Es geht dabei um Angedeutetes, Verborgenes. Dinge und Begebenheiten also, welche eher im Halbschatten liegen statt durch das grelle Sonnenlicht Exponierte.

Eine schöne Beschreibung von Yūgen liefert ein bekannter Dichter der ausgehenden Heian-Periode, Kamo no Chōmei:

Schaut man durch den Nebel auf die herbstlichen Berge, dann ist die Sicht unscharf und doch von grosser Tiefe. Auch wenn man nur wenige Herbstblätter sieht, die Ansicht ist doch reizvoll. Die unbeschränkte Aussicht, welche die Vorstellung hervorbringt, übersteigt alles, was man klar sehen kann.

Ganz ähnlich verhält es sich auch mit der klassischen Schwertkampfkunst, deren Wirkungsweisen und Konzepte sich auch nicht sofort und eindeutig offenbaren, sondern sich nur mit der Zeit ergründen und erkennen lassen.

Yūgen (vielleicht?)

Ein verwandter Ausdruck ist Yohaku-no-bi (余白の美). Dieses ästhetische Prinzip stammt primär aus der Malerei und bedeutet soviel wie „Die Schönheit des übrig gebliebenen Weiss“. Viele Tuschemalereien zeigen oft grosse freie (also weisse) Flächen, um so Momente der Andeutung zu schaffen und die den Betrachter dazu zwingen, über die eigentlichen Pinselstriche hinaus zu „sehen“. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist eine Stellschirm-Malerei mit dem Titel „Kiefernhain“ von Hasegawa Tōhaku, welche er um das Jahr 1590 schuf. Das Bildnis ist heute ein japanischer Nationalschatz.

Ebenso arbeitet die japanische Dichtung mit diesem Konzept, wo stets ein Rest ungesagt bleibt.
Und selbst der grosse Dramatiker und Nō-Schauspieler Zeami Motokiyo (1363 – 1443) bezog sich für die Schauspielkunst darauf, als er in einem seiner Traktate schrieb: „Was der Darsteller nicht tut, ist wesentlich!“

Für mich persönlich ist in der Schwertkampfkunst das Maai zwischen mir und dem Gegner (egal ob im Kata-geiko oder Shiai) so ein Yohaku-no-bi-Moment, eine grosse, leere Fläche in der sich aber das absolut Entscheidende abspielt.

Sechsteiliger Stellschirm „Kiefernhain“ von Hasegawa Tōhaku (1539 – 1610)

Ein weiterer zentraler Bestandteil japanischer Ästhetik ist das Bewusstsein für die Vergänglichkeit aller Dinge. Dies nennt sich Mono no aware (物の哀れ).
Auch hier ist das Verhältnis zu kriegerischen und kämpferischen Traditionen relativ offensichtlich: Im Bruchteil einer Sekunde kann buchstäblich alles vorbei sein, bzw. sich komplett verändert haben.

Hierbei mögen viele an das viel zu oft bemühte Beispiel der „flüchtigen Schönheit einer Kirschblüte“ denken. Selbst wenn dieses Bild nach dem abertausendsten Mal nur noch billig-kitschig wirkt, hat es doch seine Berechtigung, wenn man sich den Implikationen der japanischen Ästhetik bewusst ist.

Ebenso kann man auch Shibui (渋い) direkt mit Koryū Bujutsu in Beziehung setzen.
Das Wort an sich bedeutet nichts weiter als sparsam, schlicht, dezent.

Beim erlernen einer klassischen Kriegskunst beginnt man auch meist zuerst damit, die Bewegungen gross auszuführen um dann im Verlauf des weiteren Studiums sparsamer, schlichter und dezenter zu werden, dabei aber gleichzeitig auch die Effizienz zu steigern. Das ist die Kunst!

Bei all den genannten Konzepten geht es auch darum, eine gewisse Uneindeutigkeit oder Ambivalenz ertragen zu können.


Ordnung…

Von kleinen Kindern weiss man ja, dass Ordnung haben und halten meist nicht zu deren favorisierten Tätigkeiten gehört. Und leider zieht sich diese Haltung bei vielen bis ins Erwachsenenalter weiter und eine gewisse „Unordnung“ im eigenen Leben gilt ja manchmal schon als geradezu trendy.

Wie aber schon der Begründer des politischen Konservatismus, der Staatsphilosoph Edmund Burke (1729 – 1797) wusste: „Good order is the foundation of all things“

Diese Ordnung manifestiert sich für Schulen des Koryū Bujutsu heutzutage auf unterschiedliche Weise. Zuerst muss man wissen: Ordnung schafft Erfolg und Ordnung verhindert Konfusion.

Wie an anderer Stelle in diesem Blog schon ausgeführt, stellen sich für klassische Ryūha im 21. Jahrhundert ganz spezielle Herausforderungen: Die Schülerbasis wird internationaler und somit kann man bei vielen von ihnen nicht mehr davon ausgehen, ein natürliches Verständnis für die kulturellen Wurzeln und Konzepte zu haben, auf denen diese Schulen nun mal aufbauen.

Man sollte nicht so vermessen sein zu glauben, westlichen Schülern kann sich die ganze kulturelle Fülle von Koryū Bujutsu gar nicht offenbaren. Die Bringschuld liegt dabei aber zuerst beim Schüler selbst.

Vertreter moderner japanischer Kampfkünste haben in diesem Bereich in den vergangenen fünf Jahrzehnten durchaus Schuld auf sich geladen, indem sie westlichen Schülern vorgaukelten, dass ein vertieftes Studium der kulturellen Grundlagen unnötig sei.

Einer Ryūha muss eine stabile organisatorische Ordnung gegeben werden, ganz besonders wenn eine Schule auch im nichtjapanischen Ausland vertreten ist.
Bereits dies stellt häufig schon ein grosses Problem dar, wenn ein Schuloberhaupt sich nur unzulänglich mit seinen auf der ganzen Welt verstreuten Schülern austauschen kann aufgrund fehlender sprachlicher Qualifikationen beiderseits.
Durch die Tatsache, dass noch immer viele dieser Oberhäupter japanische Männer im, sagen wir mal, fortgeschrittenen Alter sind, verschärft sich dieser Missstand zusehends.
Wenn nun die westlichen Schüler einen Mangel an Kommunikation und entsprechender Führung feststellen, ist es nur natürlich, dass sich die Ordnung der Schule beginnt aufzulösen.

Vernachlässigt wird es auch oft, hohe Anforderungen an die Schüler zu stellen in Bezug auf deren Wissensaneignung, gerade wenn es um „soft skills“ wie japanische Sprache oder kulturelles Verständnis und Akzeptanz geht.

Die Ordnung in Bezug auf Koryū Bujutsu ist nicht eindimensional sondern vielschichtig und hat mit Stil, Haltung und Konventionen zu tun. Alles Dinge, welche auch der westlichen Etikette nicht fremd sind.

Einige einfache Beispiele dazu (natürlich nicht abschliessend):

  • Ein natürliches Gespür für Hierarchien zu entwickeln und diese auch entsprechend zu befolgen.
  • Das Verständnis, in welchen Situationen es sich nicht geziemt, einem Älteren oder Ranghöheren öffentlich zu widersprechen.
  • Das Wissen um ein respektvolles äusseres Erscheinungsbild und welcher Anlass welche Kleidung und Formalitäten bedingt.
  • Grundsätzlich geht es um Intuition und das Wissen um kulturelle Zusammenhänge.

Es gibt eigentlich eine einfache Formel: Wenn man die tradierten westlichen Verhaltensnormen kennt und sich diesen angemessen zu bedienen weiss, kann man im japanischen Kontext nicht viel falsch machen. Wenn jemandem aber bereits diese Gepflogenheiten fremd sind, der wird sich auch mit etlichen „japanischen“ Verbeugungen nur lächerlich machen.

Für den durchschnittlichen westlichen Leser mögen diese Aspekte steif, formalistisch, hölzern und völlig „uncool“ sein. Allerdings kommt Stil, Haltung und Ordnung nie aus der Mode bzw. widersetzt sich dem sogenannt Modischen konsequent. Und dies gilt glücklicherweise sowohl im Westen wie auch in Japan.


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