Die einfache Wahrheit

In den vergangenen fünf Jahrzehnten gab es zahlreiche Erklärungsversuche, was denn eigentlich Koryū-bujutsu ist oder zu sein habe. Warum aber nur fehlte bei all diesen Beschreibungen die einfachste, simpelste und naheliegendste so konsequent?

Koryū-bujutsu kann viel sein, in der Tat. Es kann Rückbesinnung auf Geschichte sein. Es kann Erhalt von Kulturgut sein. Es kann Menschen etwas geben, was sie im hektischen Alltag vermissen. Die Gemeinschaft, welche eine Ryūha darstellt, ist mit Sicherheit auch ein wichtiger Faktor für viele.

Aber ist da nicht noch mehr? Etwas, was den Wesenskern, also die eigentliche Natur einer Kriegskunst überhaupt ausmacht? Richtig: Das kämpfen.

Womit wir auch bereits beim grossen Disput angekommen sind.

Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs durchliefen auch viele der klassischen Schulen eine schwierige Zeit. Relativ rasch verfestigte sich zudem das Bild, dass die Schulen des Koryū-bujutsu eigentlich nur „kata-only“ sind, sich also lediglich darin üben, vorgegebene Formen zu trainieren.
Dabei wurde bewusst ausgeblendet, dass selbst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das kämpfen ganz selbstverständlich zu vielen dieser Ryūha gehörte.
Dieses kämpfen kam in unterschiedlicher Gestalt zum tragen. Einerseits das freie Kämpfen innerhalb der Schulen selbst (Shiai-geiko, Gekiken, etc.) oder aber als Taryū-jiai, was ein Duell zwischen Vertretern unterschiedlicher Schulen darstellt.  Die Bezeichnung „Duell“ mag bei vielen ein Schaudern verursachen. Dabei sind diese Duelle nicht darauf angelegt, den Gegner schwer zu verletzen oder gar zu töten! Dies war sogar bei der überwiegenden Anzahl der Duelle während der japanischen Feudalzeit kaum anders. Denn meist ging es darum herauszufinden, wessen Technik und Strategie besser ist. Es steckte somit meist eine grosse Neugierde dahinter. Also etwas überaus Positives!

Es ist eine Tatsache, dass nicht alle Schulen der Kriegskunst ein eigentliches Gekiken-Curriculum besassen oder besitzen. Interessanterweise spielt das aber auch gar keine Rolle.

Ein strukturiertes Freikampf-Curriculum ist sicher hilfreich aber nicht zwingend erforderlich. Es gibt genügend historische Beispiele, wo Leute in Duellen mit ihren Strategien siegreich waren, obwohl ihre Schulen keinen eigentlichen Freikampf praktizierten. Wie war das überhaupt möglich, mag man sich fragen. Nun, solche Schulen übten den Freikampf wohl nicht strukturiert, waren aber absolut bereit und in der Lage, Duelle zu bestreiten.

Also: Ein Gekiken-Curriculum muss eine Schule nicht haben. Was sie jedoch zwingend braucht, ist die Bereitschaft zu kämpfen.

Niemand, der bei Sinnen ist, kann ernsthaft behaupten, dass es nie das natürliche Wesensmerkmal von klassischen Schulen der Kriegskunst war, zu kämpfen.
Die Frage stellt sich: Können Schulen, welche es rundweg ablehnen zu kämpfen, tatsächlich noch behaupten in ihren jeweiligen Traditionen zu stehen? Wäre es nicht ehrlicher zu sagen, dass man zwar den (berühmten) Namen einer alten Schule trägt, aber mit deren Vergangenheit und Charakteristik nichts mehr zu tun haben will?

Das mag alles etwas kompliziert klingen, ich weiss…
Darum hier eine kleine Geschichte, wie sie sich vielleicht in naher Zukunft mal zutragen könnte und die dem Einen oder Anderen das oben beschriebene etwas näher bringen mag:

Ein angenehmer Sommertag. Irgendwo in einer Stadt in einem Innenhof steht ein schönes Auto. Nicht mehr ganz neu aber auch kein eigentlicher Oldtimer. Kein Luxuswagen, aber auch nicht ganz billig.

Darum herum stehen zahlreiche Menschen, welche das Auto bewundern und allerlei Gutes darüber zu sagen haben:

„Diese Ledersitze, herrlich! Wie anschmiegsam sie sind! Ja, da waren echte Handwerksmeister am Werk mit viel Liebe zum Detail!“

„Der Platz im Kofferraum ist beeindruckend! Was da alles reinpasst!“

„Schau mal, wie praktisch das Head-up Display ist!“

„Also ich liebe ja diese Carrosserieform, klassisch gehalten aber trotzdem windschnittig!“

„Wirklich nützlich finde ich ja all die Sicherheitsfunktionen!“

„Das Multimedia-System ist der Hammer. Sogar mit Gestensteuerung!“

Ein Mann, schlendert vorbei und erblickt die Menschenansammlung. Neugierig geworden, geht er in den Innenhof und hört gespannt zu. Auch er geht um das Auto herum, begutachtet es, macht sich so seine Gedanken. Dann fragt er in die Menge: „Wie fährt es sich denn so?“

Die Menge verstummt. Vereinzeltes Geflüster ist noch zu vernehmen. Ein älterer Herr tritt hervor und belehrt den Fragenden: „Mein Lieber, darum geht es nicht. Haben Sie vorhin zugehört? Wie angetan hier alle sind von der Schönheit und den praktischen Merkmalen des Wagens?“

Der Mann hat all das natürlich mitbekommen. Auch ihm gefällt das Auto, auch er kann viel Positives daran entdecken. „Ja, mir ergeht es da sehr ähnlich. Nur… der Zweck des Autos ist es, Menschen von A nach B zu bringen. All die erwähnten Annehmlichkeiten dienen zur Sicherheit im Verkehr oder dem Komfort auf der Fahrt. Aber dazu muss es erst mal fahren. Und das war der Grund meiner Frage.“

Man merkte dem älteren Herrn an, dass ihn diese Diskussion langsam etwas ärgerte: „Ihre Frage mag zwar irgendwie berechtigt sein, nur spielt das keine Rolle. Der Individualverkehr ist viel zu gefährlich heutzutage und im übrigen ist der öffentliche Verkehr so hervorragend ausgebaut, da muss sich wirklich niemand mehr hinter das Lenkrad setzen. Sehen Sie, ich besitze einige dieser Autos. Aber es ist mir noch nie in den Sinn gekommen, damit fahren zu wollen.“

Der Mann liess jedoch nicht locker: „Hat der Wagen eigentlich einen Motor?“ fragte er weiter.

„Wie meinen Sie das denn?“ kam flapsig zurück.

„Wir alle haben das Auto nun eingehend betrachtet. Aber das waren die offensichtlichen bzw. oberflächlichen Eigenschaften, nicht wahr? Ich würde nun eigentlich gerne einen Blick unter die Motorhaube werfen.“ Und mit einem verschmitzten Lächeln fügte er noch an: „Sie wissen wo die Motorhaube ist, ja?“

Der Gentleman verlor nun seine Contenance und schimpfte wie ein Rohrspatz. Natürlich wisse er sehr wohl, wo die Motorhaube ist! Und als er diese ärgerlich aufriss, blickten die Anwesenden in die Leere des Motorraums.

Einigen (aber nicht allen) der Umstehenden dämmerte nun langsam, dass hier etwas keineswegs so ist wie es sein sollte. Leider fasste sich aber niemand ein Herz, diese für alle offensichtliche Tatsache auch auszusprechen.

Der Mann verliess den Innenhof und ging um die Ecke.
Dort stieg er in sein Auto, startete den Motor, liess die Fenster runter und genoss den erfrischenden Fahrtwind und dachte so bei sich: „Herrlich, wie wenig Verkehr heute ist!“

© passionbyeric